07. Oktober 2003
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Ein Gefühl von Sicherheit: "Strich-Achter"-Fahrer
vertrauten auf die Knautschzone und feste Sicherheitszelle
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Stuttgart - Nüchtern betrachtet ist der "Strich-Achter" ein ziemlicher
Langweiler - und doch hat er eine stattliche Gemeinde von Anhängern. Denn
einerseits ist er zwar ein Klassiker, andererseits sieht er noch nicht wie ein
echter Oldtimer aus - und bei richtiger Pflege bewältigt er auch heute noch
anstandslos den täglichen Einsatz.
Schon die landläufige Bezeichnung als "Strich-Achter" zeigt, dass dieses Auto
niemand je zu blumigen Wortschöpfungen veranlasste. Bei der offiziell je nach
Motorisierung W114 und W115 genannten "kleinen" Mercedes-Limousine setzte sich
ein Zusatz der Erbauer durch: "Vorgestellt im Jahr 1968", das hieß bei Mercedes
"/8", also "Strich-Acht" - auch wenn erste Exemplare bereits 1967 gebaut wurden.
Eine Einstufung in C-, E- oder S-Klasse gab es damals bei Mercedes noch nicht.
Er war einfach der kleine Mercedes, den es wie gewohnt mit einer Vielzahl von
Motorisierungen gab. Äußerlich unterschieden diese sich allein durch den
entsprechend verchromten Schriftzug am Kofferraumdeckel - nur die Spitzenmodelle
wie der 250 oder später der 280 protzten mit etwas mehr Chrom oder doppelten
Chromstoßstangen.
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Schnörkellos schlicht: Auch der
Innenraum des kleinen Mercedes bietet keine designerischen Extravaganzen
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Preislich galt der 200 mit seinem Vierzylinder-Benziner, zwei Litern Hubraum
und 70 kW/95 PS als Einstiegsmodell - er kostete anfangs 11.500 Mark. Das
eigentliche Basismodell aber war der 500 Mark teurere 200 D, der im Grunde bis
heute das Image des "Strich-Achters" prägt. Dieser Ahn aller modernen
Diesel-Limousinen mühte sich mit seinen 40 kW/55 PS redlich, die 1,4 Tonnen
Metall vorwärts zu bewegen. Bevor es allerdings losging, galt es, die
berüchtigte "Diesel-Gedenkminute" in voller Länge auszukosten.
Handarbeit und Geduld waren angesagt: Links im Armaturenbrett wurde ein
Vorglühknopf gezogen, der so lange festzuhalten war, bis eine Spindel orange
aufglühte. Dann galt es, den Knopf zum Starten noch ein Stückchen weiter zu
ziehen. Der Effekt ähnelte dem Versuch, einen schlafenden Hund durch das Ziehen
am Schwanz zu wecken: Der vordere Teil des Wagens schüttelte sich unter
maßgeblicher Beteiligung des erwachenden Motors, um dann mit einem Geräusch die
Arbeit aufzunehmen, das mit dem dieseltypischen Begriff "Nageln" nur
unzureichend beschrieben ist.
Allerdings folgte dem rabiaten Start kein ebenso kraftvoller Arbeitsalltag. Das
Thema Beschleunigung kann eher als kaum wahrnehmbarer Geschwindigkeitszuwachs
bezeichnet werden. Die Höchstgeschwindigkeit von 130 Kilometer pro Stunde soll
in einigen Fällen tatsächlich erreicht worden sein.
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Der Urahn aller Diesel-Limousinen musste
mit Handarbeit und viel Geduld zum Leben erweckt werden
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Dieses Image gepflegter Langsamkeit dürfte manche "Strich-Achter"-Besitzer
zur Weißglut gebracht haben - denn das Auto konnte auch anders. Schließlich gab
es die Limousine auch mit kräftigen Sechszylindern. Der 230 leistete immerhin 88
kW/120 PS, der 250 kam auf 96 kW/130 PS und später gab es sogar noch den 280 E
mit 136 kW/185 PS. Für Menschen, die weniger auf vier Türen Wert legten, fand
sich neben der Limousine auch eine noble Coupé-Variante mit den stärkeren
Motoren im Programm.
Die Autokäufer überwanden ihre anfangs vorhandene Skepsis gegenüber der "Strich-Acht"-Limousine
schnell und machten sie zu einem Erfolgsmodell. Ein Grund dafür dürfte auch das
Gefühl der Sicherheit gewesen sein, das dieses Auto den Insassen bietet. Mehr
noch als andere Mercedes-Typen vermittelt es das Gefühl, in einer Art fahrenden
Burg zu sitzen, in der einem wenig passieren kann.
Die größte Veränderung erlebte der "Strich-Achter" Mitte 1973, als die
Modellreihe ihr Facelift erhielt. Das brachte unter anderem einen breiteren und
flacheren Kühlergrill sowie geriffelte Schlussleuchten mit sich. Zudem gab es
einen Fünfzylinder-Diesel mit drei Litern Hubraum und 59 kW/80 PS im 240 D 3.0.
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Die noblere Coupé-Variante wurde mit
stärkeren Motoren und Holz-Imitaten am Armaturenbrett ausgestattet
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Während ein Facelift in der Regel dazu dient, Verkaufszahlen einer alten
Baureihe vor dem nächsten Modellwechsel nicht zu weit abfallen zu lassen,
erreichte der "Strich-Achter" im Hinblick auf die Verkäufe im Alter seinen
Höhepunkt. Das Maximum lag laut Mercedes in Stuttgart bei 278.663 Exemplaren
1975. Schon im Januar 1976 war eigentlich Schluss, als die neue Baureihe W 123
zu den Händlern rollte.
Allerdings führte das zu einer ungewöhnlichen Begebenheit in der Autoindustrie:
Obwohl der Neue bereits zu haben war, wurde der beliebte Vorgänger noch bis
Dezember 1976 gebaut. Dadurch kam die Baureihe auf eine Gesamtstückzahl von 1,92
Millionen Exemplaren - das entspricht fast der Gesamtstückzahl aller anderen von
1946 bis zu diesem Zeitpunkt gebauten Mercedes-Personenwagen.
Von Heiko Haupt, gms
(Gefunden bei
Spiegel-online)
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23. Januar 2003
MERCEDES "STRICH-ACHT"
Die wieder entdeckte Langsamkeit
Von Mathias Paulokat
Wunder geschehen immer wieder. Zum Beispiel, wenn ein Allerweltsauto
urplötzlich zu Klassikerehren kommt und quasi nebenbei noch zur
Entschleunigung der Zeit beiträgt. Ein nostalgischer Rückblick auf den
Mercedes-Benz 200 D.
Liebhaber-Autos. In einer Zeit rasender Geschwindigkeit brauchen wir Dinge,
die uns innehalten lassen. Dinge, die uns Zeit schenken - Zeit zum
Nachdenken und zum Verstehen. Zeit für das Eigentliche im Leben. Zeit für
die Zeit. Glaubt man den Hochglanzprospekten sind Füllfederhalter solche
Zeitspender, auch handgearbeitete Präzisionsuhren fangen die Zeit scheinbar
für uns ein. Und - oh Wunder - auch Automobile können zur Entschleunigung
beitragen. Natürlich nicht alle, aber der vollmechanische Mercedes-Benz 200
Diesel der Baureihe W 114/115 mit seinen 55 PS, zwei Litern Hubraum und
knapp 1,5 Tonnen Leergewicht ist so ein Entschleunigungsfaktor. In unserer
von Technik entseelten Zeit ist er die Reinkarnation lang ersehnter
Langsamkeit. Und genau das brauchen wir jetzt.
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Der Mercedes-Benz "Strich-Acht" hieß
werksintern W 114 oder W 115
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Das Problem ist nur: Sie sind selten geworden. Rostfraß,
Flower-Power-Fahrer und Ökosteuer haben die Diesel-Daimler von altem Schrot
und Korn in Deutschland nahezu ausgerottet. Wenn heute ein gut erhaltener,
arabergrauer oder ahorngelber Mercedes aus den siebziger Jahren durch die
Straßen rollt, kommt es schon vor, dass ihm neugierige Blicke hinterher
geschickt werden. Zwischen all den Cw-Wert optimierten Schnauzen moderner
Fahrzeuge ist er mit seinen Hochkantscheinwerfern einfach ein Gesicht in der
Menge. Das Allerweltsauto des letzten Jahrhunderts ist plötzlich wer: Eine
Persönlichkeit. Als Mercedes-Händler 1999 die facegelifteten E-Klassen in
ihren Verkaufshallen vorfuhren, parkten manche einen 200 D daneben und
legten ein Schild mit just diesen Worten hinter die Windschutzscheibe: Eine
Persönlichkeit.
Verschnitt aus Spießbürger und Biedermann
Das war nicht immer so. SPIEGEL-Redakteure schrieben in ironischem Tonfall
über den Diesel-Benz: "Sie waren das maßgeschneiderte Vehikel für die
ländliche Bevölkerung, die im gemächlichen Rhythmus der Fruchtfolge lebte
und mit tannengrünen Gummistiefeln im tannengrünen Mercedes 200 D durch die
Fluren zockelte." Irgendwie wurde der 200 D, wenn überhaupt, dann nur als
Verschnitt aus Spießbürger und Biedermann wahrgenommen. Und tatsächlich
fühlte sich das Fahrzeug in pflegender Rentnerhand und auf beschaulichen
Alleestraßen besonders wohl, der innerstädtischen Rush-Hour war sein
Drehmoment nicht gewachsen, der Bauern-Benz mutierte zum Verkehrshindernis.
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Ab 1973 erhielt der Mercedes 200 D
ein Facelift
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Es kam aber noch schlimmer. Die autonome Szene nahm sich seiner an.
Kurzerhand beschlagnahmten sie das Automobil des kapitalistischen
Klassenfeindes, malten Gänseblümchen und Anarchiezeichen auf die Türen und
schwärmten so zu ihren Demos aus. Und die wenigen Strich-Achter - so heißt
das Baumuster in Liebhaberkreisen auf Grund der Markteinführung im Jahr 1968
- mit gehobener Ausstattung bekamen von Achmed noch zwei Paar Orientteppiche
verpasst, und ab ging es zum Export in den Nahen Osten.
Wer es trotz allem Unbill noch in den neunziger Jahren tatsächlich wagte,
und mit einem Strich-Acht bei der Mercedes-Benz-Vertragswerkstatt vorfuhr,
erntete nur mitleidige oder gar strafende Blicke. Selbst mopedfahrende
Lehrlinge konnten sich eine spöttische Bemerkung nicht verkneifen. Ein
Mercedes für Arme eben, dieses Seitenstraßenimage haftete ihm viele Jahre
an.
Epoche der Sachlichkeit
Dabei hatten die Strategen bei Daimler wieder einmal alles so schön
ausgeklügelt - damals in den sechziger Jahren. Der 200 D, gebaut von 1967
bis 1976, löste rein formal die goldene Heckflossenära im Hause
Mercedes-Benz ab. Tatsächlich stand er aber für mehr. Seine schlichte, sehr
aufgeräumte Karosserie aus der Hand des langjährigen Chefdesigners Paul
Bracq läutete bei Mercedes die Epoche der Sachlichkeit ein. Schlichtheit und
Sicherheit wurden groß geschrieben: Von "Sicherheitskopfstützen,
Sicherheits-Außenspiegeln und Sicherheits-Automatikgurten" sprach der
Verkaufsprospekt. Und bei Mercedes formulierte man seitdem vornehm: "Eleganz
heißt, in Rufweite hinter der Mode zu sein."
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"Maßgeschneidertes Vehikel für
die ländliche Bevölkerung, die im gemächlichen Rhythmus der
Fruchtfolge lebte"
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All das konnte indes eines nicht verhehlen: Die - wohlwollend ausgedrückt
- gutmütigen Fahreigenschaften des Strich-Acht. Schnelligkeit ist seine
Sache nie gewesen, da unter der Haube noch das alte, wenn auch bewerte
Heckflossenaggregat zu Werke ging. Beim "0-auf-100-km/h-Test" kann sich die
Stoppuhr Zeit lassen. Der Sekundenzeiger braucht auch heute noch über eine
halbe Minute, bis die Tachonadel endlich die 100er Marke touchiert.
Tatsächlich dürfte der 200 D eines der langsamsten Großserienfahrzeuge aus
dem Hause Mercedes-Benz sein. Die Anpreisung im Verkaufsprospekt klingt
daher auch eher wie eine Entschuldigung: "Die Höchstgeschwindigkeit des 200
D von 130 km/h ist Dauergeschwindigkeit - wenn Sie so wollen über Hunderte
von Kilometern ohne Unterbrechung und ohne große körperliche
Beanspruchungen, was nicht überall selbstverständlich ist." Immerhin: Auch
der Kraftstoffverbrauch unter Volllastbedingungen fällt mit deutlich unter
zehn Litern moderat aus.
Wer indes auf Spurtstärke Wert legte, kaufte ohnehin keinen Diesel, sondern
einen Strich-Acht mit 2,8-Liter-Einspritztriebwerk. Dieses Automobil war -
rein äußerlich - bis auf eine leicht abgewandelte Stoßstangenform und das
doppelte Auspuffrohr nicht vom 200 D zu unterscheiden. Understatement par
excellence. Die 185 PS katapultierten den großen Bruder allerdings in nur
9,9 Sekunden von 0 auf 100 km/h, und die Tachonadel machte erst bei 200 km/h
halt. Die Wölfe in Schafspelzen waren allerdings auch fast doppelt so teuer
wie die Dieselschnecken, die bei Einführung 12.000 Mark kosteten.
Werkslackierungen in Mimosengelb und Cayenneorange
Trotz der großen Konkurrenz aus dem eigenen Haus, der scheußlichen
Werkslackierungen in Mimosengelb und Cayenneorange, wider aller Sottisen und
Spötteleien: Die Verkaufsschlager der Baureihe Strich-Acht waren der 200 D
und der fünf PS stärkere 220 D. Fast eine Million Mal wurden die
Dieselfahrzeuge verkauft. Vielleicht zehntausend dürften bis heute in
Deutschland überlebt haben. Die wenigsten sind noch in pflegender
Rentnerhand - Studenten mit Hang zur Avantgarde, Individualisten des
Mittelstandes, Jungunternehmer aus der New Economy, Anwälte, Ärzte und
Life-Style-Journalisten haben sich seiner erbarmt. Die Preise der Kultwagen
steigen seit den neunziger Jahren kontinuierlich an, für die wenigen, gut
erhaltenen Exemplare sind mittlerweile wieder die Neuwagenverkaufspreise von
1968 maßgeblich.
Tiefe Blicke in Kotflügel, Schwellerbereiche und Türinnenleben sollte sich
allerdings kein Kaufinteressent verwehren lassen, dem Rost bieten sich hier
bekömmliche Nährböden. Wer es sich stattdessen verkneifen kann, unterwegs
auf den Tacho zu gucken, fährt allzeit gut mit einem 200 D. Die
sprichwörtliche Mercedes-Zuverlässigkeit ist ständiger Begleiter, Hektik hat
in diesem Fahrzeug indes keinen Platz. In all der Rastlosigkeit ist der
Wagen ein Zeitanker, den Kenner neben ihrer mechanischen Uhr oder dem
Füllfederhalter nicht missen möchten: "Mit einem 200 D fährt man nicht,
obwohl er langsam ist, sondern gerade weil er langsam ist."
(Gefunden bei
Spiegel-online)
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